Bevor Claudia und Yvy kommen, laufe ich weiter. Henning
nimmt noch einen Becher und folgt mir. Gleich nach Verlassen des Brauhauses
sehe ich zur rechten das Schloss Cecilienhof. Hier baute der letzte Kronprinz
Wilhelm 1914-17 im englischen Landhausstil, hier tagten im Juli und August 1945
US-Präsident Truman, Stalin und Churchill, nach dessen Abwahl mittendrin dann
Attlee, konnten sich nicht einigen, zementierten die deutsche Teilung und
begannen den kalten Krieg.
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unsere Potsdamer Konferenz - Schloss Cecilienhof Potsdam |
Dies erzähle ich einem US-Amerikanischen Touristen
neben mir auf Englisch, der ganz überrascht war, dass Präsident Truman von hier
aus den Abwurf der Atombomben telefonisch befahlt. Ein bedeutsamer, aber
zugleich wunderschöner Ort. Weiter geht es über Parkwege entlang der Seen
Richtung Glienicker Brücke, die wir schneller als erwartet erreichen. Eben noch
fernab am Schloss Sacrow, nun schon hier. Henning und ich freuen uns, dass es
noch gut voran geht. Die Glienicker Brücke unterlaufen wir erst, um dann in
großem Bogen ihre Rampe zu erklimmen. Das kann man laufen. Oben bleibe ich
stehen, die Sonne ist wieder da und bescheint eine herrliche Szenerie mit dem
berühmten Dreischlösserblick.
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weltbester Radbegleiter Henning |
Ich sehe über die Brücke nach Westen und stelle
mir den letzten Agentenaustausch im Februar 1986 hier vor. Dunkle Limousinen
und Militärjeeps auf beiden Seiten. Nebel über den Wasseroberflächen. Kommandos
über die Brücke. Dann Typen in schwarzen Mänteln, die sich in der Mitte
begegnen. Völlig irreal in diesem herrlichen Sonnenschein. Das diskutiere ich
auch kurz mit Lars, dem Schlurfer von eben, der wieder gut angelaufen ist. Mit
Deutsch ging es nicht so gut, auf Englisch dann besser.
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Mit Däne Lars auf der Glienicker Brücke |
Ich mag diese
internationale Atmosphäre hier. Ein kurzes Stück zwischen Schloß Babelsberg zur
Rinken und Schloß Glienicke zur Linken, beide in extrem gut gepflegten
Gartenanlagen, geht es rechts wieder weg von der Straße, vorbei an der
einstigen Ost-Exklave Klein-Glienicke vorbei, wo nur eine einzige Zufahrtstraße
von Babelsberg aus hin führte. Entlang des Griebnitzsees laufen wir durch
Babelsberg, die Mauer verlief hier am Uferrand, die Grenze im Wasser. Hier
stehen die Villen aus den ersten Jahren des vorigen Jahrhunderts, eine schöner
als die andere auf beiden Seiten der hügeligen Straße. Den Uferweg haben die
Anwohner leider versperrt, hier läuft seit Jahren ein Rechtsstreit mit Stadt
und Land. Ohne viel vom Griebnitzsee zwischen den Anwesen hindurch sehen zu
können laufe ich weiter, immer noch in einer Pace von 7 – 7:20. Aber das ist
gut und richtig. Ich darf jetzt mein Fahrgestell nicht dazu zwingen wollen, die
Pace unter 7 Minuten zu halten, wie ich es vielleicht gerne gehabt hätte. Die
Beine laufen gerade von alleine und das werden sie noch eine ganze Weile tun,
wenn ich nicht diese Fehler mache. Also nehme ich es hin. Nach den Villen geht
es dann hinab zum gesperrten Ende des Uferweges, zum VP 15 an der Gedenkstätte
Gribnitzsee. Ein Mauerrest mit niedergelegten Kränzen, eine Steele für einen hier
zu Tode gekommenen „Grenzverletzer“ und bequeme PVC-Stühle statt der bisher
häufig verwendeten Bierzeltbänke. Ich setze mich, mein Page Henning bedient
mich gemeinsam mit der VP-Beatzung. Top-Service. Ich erfahre, dass meine
Schalker 2:0 in Bremen führen, was meine Stimmung noch weiter anhebt. Dann ein
kurzer Smalltalk mit dem VP-Betreiber. Ich erzähle, dass die Mauer für mich
eine Bedeutung hat, von meiner A-Jugend Abschlussfahrt 1986 nach West-Berlin
und dem Mauerspaziergang damals. Was, wenn ich damals meiner Freundin Claudia
geschrieben (so was tat man damals noch!)hätte: „In drei Jahren ist die Mauer
weg und in 29 Jahren laufen wir den ganzen Verlauf mit 161 Kilometern am
Stück!“ Wir lachen gemeinsam und spekulieren, wo man mich wohl wegen beider Ankündigungen
eingewiesen hätte. Nun ist sie weg, die Mauer, nicht Claudia. Mit der bin ich
bekanntlich seit 24 Jahren glücklich verheiratet und die lasse ich grüßen, als
wir wieder aufbrechen. Nein, vorher philosophiere ich noch kurz mit dem Mann
vom VP. Ich habe 1987 im Westen bei der Bundeswehr „gedient“. Es hätte ja auch
im Osten sein können. Hätte ich geschossen, wäre ich an die Grenze kommandiert
worden? Ich möchte diese Frage nicht
klar beantworten, ausschließen will ich mal gar nichts.
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Gedenkstätte Griebnitzsee - Km 90 |
Der Lauf ist halt nicht
nur ein Lauf. Noch immer bleibe ich nicht länger als 4 Minuten, dann das kostet
Durchschnittspace. Kurz hinsetzen motiviert aber inzwischen ungemein als
kleines Zwischenziel. Wir laufen los, Claudia und Yvy müssen aber noch kurz
hinter uns sein. 90 Kilometer erledigt, die hundert Kilometermarke ist nicht
mehr weit. Dann geht es Richtung Kohlhasenbrück und zum Königsweg in den Wald. Ich
erzähle Henning vom Kaufmann Hans Kohlhaas und seinem Rachefeldzug für
widerrechtlich eingehaltene Pferde, von Heinrich von Kleist, der sich unweit
von hier im Wald erschossen hat und seiner Novelle Michael Kohlhaas und vom
Widerspruch, den Recht und Gerechtigkeit manchmal bilden können. Absolute
Gerechtigkeit wird es nicht geben, auch hier haben Frauen und Männer
beispielsweise den gleichen Zielschluss und die gleiche 24-Stundengrenze für
den Buckle. Gerecht? Solche Gespräche unterwegs sind auch wichtig und sinnvoll,
sie halten auch den Geist beider Teammitglieder wach. Denn der der auf dem Rad
sitzt, hat einen schwierigen Job. Er geht nicht an dieselben körperlichen
Grenzen, ist aber Müdigkeit und Haltungsschmerzen ausgesetzt. Er ist quasi „Befehlsempfänger“,
reicht an und bedient, obwohl er selbst müde ist. Henning macht das hier
ausgezeichnet, dabei muss er bisher noch nicht mit schlechter Laune klarkommen.
Alleine ist das alles viel schwieriger, nicht nur wegen des Rucksacks. Der
Königsweg von Babelsberg nach Zehlendorf und Kleinmanchow führt schnurgerade
durch den Wald und folgt dem Postenweg. Als Kutschenweg für den Soldatenkönig im
18.Jahrhundert gebaut ist er 6 Kilometer lang, das längste Geradeausstück. Ich
laufe immer noch, wie Henning mit glaubhaft bescheinigt, aber auf dem erneut
welligen Königsweg. Regen hat eingesetzt. Die Gewitter grollten woanders, aber
der regen wird stärker und ist mir im Moment eine angenehme Erfrischung. Wir
sehen einen Läufer vor uns, einen weiteren hatte ich kurz vor dem Wald überholt.
Es wird immer welliger, der anfangs perfekt geschotterte Weg wird immer
schlechter und wir immer nasser. Den Läufer vor uns haben wir, wir laufen ein
Stück beieinander, fragen ob er etwas braucht und füllen ihm seine Trinkflasche
mit Wasser nach. Hat Henning ja genug auf dem Rad und beim Ultra läuft man
miteinander und nicht gegeneinander. Mir ist das mittlerweile auch völlig egal.
Meine Uhr weicht nun schon 2 Kilometer von den Zielangaben an den VP ab. Also
muss ich noch weiter laufen, als meine Uhr mir anzeigt und also darf auch die
Pace nicht weiter sinken. Rechts im Wald liegt die West-Exklave Albrechts
Teerofen, dahinter im Wald der alte Autobahngrenzübergang der A115. Die DDR
hatte die Trasse verlegt, weil sie immer mehrfach die Staatsgrenze wechselte
und so für ihre Bürger nicht nutzbar war. Ich habe jetzt schnell wechselnde
Kleinkrisen. Mal laufe ich durchaus angestrengt, erreiche aber nur knapp noch
eine 7 vor der Pace. Einen Kilometer wird es grundlos leichter und es kommt
sogar noch eine 6:44 dabei raus. Zwei junge Mädchen kommen den Waldweg von
rechts und biegen hinter uns ab, überholen uns bald. Wir wechseln ein paar
Worte, die beiden sind mir zu schnell und schnell nach vorne weg. Die machen
vielleicht 6er Pace und ich kann sie nicht halten. Ich lache mich kaputt. Ein
Staffelläufer hängt sich dran und erfreut sich längere Zeit an ihrem Anblick. Die machen es jedenfalls
richtig, sie gehen raus und bewegen sich. Jeder, sei er noch so langsam,
überholt jeden, der auf der Couch liegt. Sieht Henning genauso und kriegt
selbst wieder mehr Laust aufs Laufen, das schwankt bei ihm schon mal. Er ist ja
auch schon Ultras gelaufen, aber nie mehr als so 60 Kilometer. Wir laufen über
die verlegte Trasse der Autobahn, gestern fuhren wir bei der Anreise noch unten
durch und malten uns aus, wie es heute sein würde. Jetzt sind wir schon hier
bei Kilometer 96. Ist der Wald da vorne endlich zu Ende? Nein, nur eine Straße,
eine Siedlung und immer noch kein VP. Dann endlich haben wir ihn erreicht. Fast
pünktlich lässt der Regen ein wenig nach. Der VP hat nasse Stühle zu bieten,
aber da ist mir egal, ich bin ja eh nass. Hier wird mir zum ersten Mal leicht
kühl und es geht wieder schnell weiter. Leider laufen wir nun zu dritt,
den Wolfgang hat sich dazu gesellt. Der
regen war’s, meine Adduktorengegend fühlt sich auf einmal sehr wund an. Das
kann ja noch heiter werden. Ein paar Ecken, dann eine Wohnsiedlung in Kleinmanchow.
Jemand hat einen privaten kleinen Verpflegungsstand unter einem Sonnenschirm
aufgebaut. Ich nehme einen Schluck Wasser und ein paar Salzstangen, die ich
aber nur schwer herunterbekomme. Die Sonne ist da, es dampft wieder auf dem
Asphalt und mir ist elend schwül-schwitzig. Aber ich laufe, wie Henning immer
so schön sagt. 100 Kilometer sind erledigt, nach meiner Uhr. Wir sind am
Teltowkanal, dann kann es nicht mehr weit zu Kilometer 103 und damit zum
Wechselpunkt sein. Nein, der „Kanal“ ist völlig verschilft, selbst ich
akribischer Vorbereiter weiß nicht, was das mal war oder werden sollte. Ich
rede erstmals über Gehpausen. Mir tut Nichts weh, nur die Beine werden halt
schwerer und schwerer. Beim VP in Teltow an der Sporthalle, wo man duschen und
sich hinlegen kann, werden wir etwas länger Pause machen. Die 13 Stunden werden
knapp, sind aber noch zu erreichen, was einzig an den schon über zwei zu wenig
angezeigten Kilometern auf meiner Uhr liegt. Dann hätte ich bei einer halben
Stunde Pause, WC, umziehen und essen 10,5 Stunden für 58 Kilometer. Gehtempo!
Dann ist das Erreichen des Ziels sicher, wenn ich mir kein Bein breche. Endlich
sind wir am Teltowkanal. Wieder erzähle ich Henning von den Treidellokomotiven,
die bei Eröffnung um 1907 herum die Kähne gezogen haben. Die Amerikaner
kopierten das System, als sie 1914 den Panamakanal fertig bauten. Auf deren
Treideltrassen laufen wir gerade. Ich weiß, dass wir erst über eine Brücke
müssen und dann wieder fast 500 Meter am anderen Ufer zurück, aber da ist keine
Brücke. Dafür wieder Läufer, die wir überholen. Wann kommt die dämliche Brücke?
Die Kirche des Ortes Teltow am anderen Ufer ist zu sehen, die ist nicht weit
vom WP, das hatte ich gelesen. Also kann es nicht mehr weit sein. Endlich geht
es bergauf, die Rampe zur Straße ist erreicht. Einen überholen wir noch, dann
geht es hinter der Brücke wieder ein ganzes Stück zurück. Drüben auf der
anderen Straßenseite kommen bereits wieder Läufer entgegen. Auch Normann und
Betty auf dem Rad sehen wir. Winken, Glück wünschen, weiter. Irgendwo ist sich
ja jeder selbst der nächste. Dann sind wir da. Der VP ist in der Turnhalle,
dort ist es schön stickig. Die Logistikcheckliste läuft runter. Foto, Posting
für die fiebernde Fangemeinde, Suppe löffeln, trinken.
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Turnhalle Teltow - Wechselpunkt und Pause. ganze 30 Minuten! |
Keramikabteilung, dann
kann man sich dann auch eine frische Hose anziehen. Wolfgang ist mit auf dem
Klo und ich bekomme ihn erstmals zu Gesicht. Kein schöner Anblick. Vielleicht
hilft ja die frische, trockene Hose. Als wir weg wollen, kommen Claudia und Yvy
an. Wir haben eine knappe halbe Stunde Vorsprung. Es geht ihnen gut, wir machen
noch ein Foto.
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Das letztegemeinsame Foto - vor dem Ziel |
Vor dem Ziel sehen wir uns wahrscheinlich jetzt nicht mehr, denn
auch die Mädels wollen Pause machen. Ich bin nun tiefenentspannt. Die trockene
Hose scheint zu helfen, Wolfgang scheint am WP zurückgeblieben zu sein. Der
Hund der! Zeitlich bin ich genau bei den 13:30 h, habe also noch 10:30. Für 58
Kilomter, wie gesagt. Das ist nur noch wenig mehr als ein Marathon, sage ich
mir. Ich kann jetzt gehen und jeder
Meter, den ich laufe, bringt mich schneller ans Ziel. Schnell ist die Brücke
über den Teltowkanal wieder erreicht. Was
nun folgte, hatte ich mir definitiv leichter vorgestellt.
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